‚Der Braune‘ oder ‚Honigfresser‘: Tabu-Wörter im Tierreich der Steppenvölker

Ein interessantes Phänomen, das wir in vielen Sprachen der Welt beobachten können, ist die Ersetzung von ursprünglichen Wörtern für Tiernamen durch neue Ausdrücke. Da wir uns hier primär mit den Völkern der eurasischen Steppe beschäftigen, werden ähnliche Vorkommnisse in anderen Sprachen ausgeblendet. Ich beziehe mich in diesem Artikel auf die indoeuropäischen Sprachen, gefolgt von den uralischen Sprachen und schließlich den Türksprachen. Es soll aber nicht der Eindruck entstehen, dass das oben genannte Phänomen nur in diesen Sprachfamilien vorkomme.

In vielen Sprachen der Welt werden bestimmte Wörter insbesondere aus bestimmten Wortfeldern vermieden und durch neue ersetzt. Das neue Wort für die dieselbe Bedeutung kann dann ein anderes Wort der eigenen Sprache mit einer nun neuen Bedeutung sein (Bedeutungswandel), es kann ein neues Wort gebildet werden (Wortbildung, Neologismus), meist eine Umschreibung; oder es kann ein Wort aus einer anderen Sprache entlehnt werden (Entlehnung). Alle diese Prozesse sind in den Sprachen der Welt belegt. Solche Wörter, deren Verwendung man bewusst vermeidet und ersetzt, nennt man in der Sprachwissenschaft Tabu-Wörter.

Die Gründe für Tabus und deren semantischen Felder können variieren. Oft hängt dies mit der gesellschaftlichen Struktur oder der Religion bzw. dem Glauben zusammen. In vielen Fällen sind Tabu-Wörter diejenigen, die beim Sprecher negative Assoziationen hervorrufen und z. B. Gefühle wie Angst auslösen. Respekt, Ehrfurcht und Angst (z. B. vor bestimmten Tieren) sind häufig vorkommende Gründe für dieses Phänomen. Bei naturverbundenen, animistischen Völkern ist der Glaube vorhanden, dass die Seele eines verstorbenen Ahnen in der Natur, in einem Tier weiterlebe. Solche Tiere, die als heilig gelten und in Mythen eine große Rolle spielen, nennt man auch Totemtiere. Zwei Tiere, die bei den Völkern unseres Interessengebiets häufig im Zentrum von Tabus stehen, sind der Bär, genau genommen der Braunbär, und der Wolf. In anderen Regionen der Welt sind dagegen andere Tiere von diesem Phänomen betroffen, z. B. wird im indischen Subkontinent der Tiger gerne umschrieben.
Fangen wir mit den Wörtern für den oben abgebildeten Bären in den indoeuropäischen Sprachen an. Auch die frühen Indoeuropäer bevölkerten, ähnlich wie die frühen Türken, weitläufige Steppengebiete, bevor sie Europa und danach andere Gebiete der Welt eroberten.

Das Wort für ‚Bär‘ im Proto-Indoeuropäischen, also in der rekonstruierten gemeinsamen Ursprache des Deutschen, Englischen, Französischen, Russischen, Persischen, Indischen usw., hatte die Form *h₂ŕ̥tḱos. Heutige Nachfahren dieses Wortes, die man in der Linguistik Reflexe nennt, sind z. B. Spanisch oso und Französisch ours (beide hängen mit Lateinisch ursus zusammen) sowie Griechisch árktos, Albanisch ari und Persisch xers. Vor dem für viele wohl seltsam aussehenden Wort steht ein Stern, der angibt, dass dieses Wort nicht schriftlich belegt ist, sondern mittels einer linguistischen Methode vergleichend rekonstruiert wurde. Die einzelnen skurril aussehenden Laute zu erklären, wäre zu technisch und für unsere Zwecke hier auch irrelevant. Wichtig ist zu wissen, dass einige Zweige der indoeuropäischen Sprachfamilie einen Nachfahren dieses Urwortes nicht besitzen. Einer der Zweige, das Germanische, zu dem unter anderem das Deutsche sowie das Englische gehören, hat dieses Urwort aufgegeben und durch ein neues Wort ersetzt. Der Grund dafür ist die oben erwähnte Tabuvermeidung. Deshalb fingen die Sprecher des Proto-Germanischen an, also der Ursprache aller germanischen Sprachen, den Bär nur noch als „der Braune“ zu umschreiben. ‚Braun‘ ist die ursprüngliche Bedeutung von Proto-Germanisch *berô, der in den modernen germanischen Sprachen zu Deutsch Bär, Englisch bear und Dänisch bjørn (ja, Björn, dein Name bedeutet „Bär“!) wurde.
Die Sprecher des anderen Zweigs, des Slawischen, zu dem unter anderem Russisch, Polnisch und Tschechisch gehören, hatten eine ganz kreative Idee. Die Sprecher des Proto-Slawischen nutzten die Vorliebe des genannten Tieres für den Honig, um ein neues Wort zu bilden. Dieses slawische Urwort, das wörtlich übersetzt ‚Honigfresser‘ bedeutet, lebt heute in Russisch medved‘, Polnisch niedźwiedź, Tschechisch medvěd usw. weiter.

Neben dem Bär steht auch der Wolf oft im Fokus von Tabus. Das gemeinsame Urwort der Indoeuropäer lautete ungefähr *wĺ̥kʷos und ist der Vorfahre von Deutsch Wolf, Russisch volk, Persisch gorg, Griechisch lýkos und Spanisch lobo (vgl. Latein lupus). Wieder tanzten zwei Sprachzweige aus der Reihe, diesmal Armenisch und Keltisch (zu dem Irisch, Schottisch-Gälisch und Walisisch gehören), und ersetzten das ererbte Wort. Beide greifen auf Wörter zurück, die wörtlich mit ‚Heuler‘ übersetzt werden können. So gehen Armenisch gayl und Irisch faol auf *waylos im Proto-Indoeuropäischen zurück, das von der Wurzel *way- (ihr erahnt es schon, die Urform von Deutsch weinen) stammt.

Auch in den finno-ugrischen Sprachen, die zur größeren Sprachfamilie der uralischen Sprachen gehören, stoßen wir auf solche Prozesse. Diese Sprachfamilie erstreckt sich über ein großes geographisches Gebiet von Mitteleuropa und Skandinavien bis nach Sibirien und enthält etliche Sprachen, wovon Estnisch, Finnisch und Ungarisch die bekanntesten sind.
Fangen wir mit dem Zweig der ugrischen Sprachen an. Im bekanntesten Vertreter dieser Gruppe, dem Ungarischen, ist das Wort für ‚Wolf‘ farkas, das wortwörtlich „der mit dem Schwanz“ bedeutet. Möglicherweise wurde das Wort ursprünglich in der Konstruktion farkas állat ‚das Tier mit dem Schwanz‘ verwendet. Natürlich ist der Wolf bei weitem nicht das einzige Tier, das einen Schwanz besitzt, allerdings erkennt man hier sehr gut die Umschreibung eines ursprünglichen Tabu-Wortes.
In einer anderen ugrischen Sprache, im Chantischen, das von nur knapp 10.000 Menschen im Nordwesten Sibiriens gesprochen wird, sehen wir eine äußerst kreative Neubildung. Die Vorfahren der Sprecher dieser Sprache haben sich für eine andere Konstruktion als die Ungarn entschieden. In einem Dialekt des Chantischen ist das Wort für das besagte Tier vuɬy porty voj, eine Zusammensetzung aus den Wörtern für ‚Hirsch‘ (vuɬy), ‚beißen‘ (porty) sowie ‚Tier‘ (voj). So erfinderisch können die Sprecher einer Sprache manchmal sein, um ein tabuisiertes Wort zu umgehen.

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Der Wolf wird von vielen Völkern verehrt wie gefürchtet und ist Teil von zahlreichen Mythen in Eurasien.

In einem nächsten Beitrag werde ich auf ähnliche Fälle in anderen uralischen Sprachen sowie in den Türksprachen zu sprechen kommen.

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