Buddhistische Begriffe im Alttürkischen und im modernen Türkischen

Für einige von euch wird es auf den ersten Blick vielleicht etwas befremdlich klingen, aber die Türken gehörten vor ihrer (mehrheitlichen) Konversion zum Islam anderen Religionen an. Ein großer Teil von ihnen, besonders die Alten Uiguren, waren Buddhisten. Im Folgenden fasse ich zusammen, wie der Buddhismus zu den Türken gelangte und welche Spuren er bei ihnen hinterlassen hat. Kulturelle Prägungen zeichnen sich auch in der Sprache ab, deshalb werde ich euch erläutern, welche Relevanz einige Wörter und Redewendungen des Türkischen im Bezug zum Buddhismus haben. Um das hier vermittelte Wissen für euch verständlicher zu machen, werden Sprachkontakt und Begriffe wie Lehnwort genauer erklärt.

Natürliche menschliche Sprachen sind von anderen Sprachen nie vollständig isoliert und ihre Sprecher haben stets Kontakt mit Sprechern anderer Sprachen. Oftmals geschieht Sprachkontakt als Begleiterscheinung von Kulturkontakten zwischen mindestens zwei benachbarten Völkern, die verschiedene Sprachen oder Sprachvarietäten sprechen. Das ist ein wichtiger Punkt, denn jede auch „primitive“ Sprache steht im Austausch mit einer anderen und besitzt Lehnwörter. Die dabei vorkommenden Sprachkontakte können unterschiedlicher Natur sein und zu verschiedenen Ergebnissen führen, von der Entwicklung von Bilingualität in einer Gemeinschaft über Entstehung einer neuen Sprache bis hin zu Sprachwechsel einer Gemeinschaft sowie Sprachtod. Sprachkontakt kann auf der Ebene der gesprochenen Sprache, der ursprünglichsten Art des Sprachkontakts, sowie auf der Ebene der Schriftsprache stattfinden. Das häufigste und wohl trivialste Ergebnis des Sprachkontakts ist die Entlehnung. Genauer genommen, die Entlehnung von Wörtern, die wir dann Lehnwort nennen. So wie das Lexikon (Vokabular) einer Sprache relativ viel über die Kultur eines Volkes aussagen kann, können Lehnelemente häufig Hinweise darauf geben, mit welchen Völkern Sprecher einer Sprache in welchem Gebiet Kontakt hatten, und sie sind wichtig beim Versuch, die Wanderwege und Kultur früherer Völker zu ermitteln.

Die Türksprachen standen aufgrund der weiten geographischen Verbreitung der Türkvölker bereits seit relativ früher Zeit und stehen noch immer in Kontakt mit vielen verschiedenen Sprachen, die zu unterschiedlichen Sprachfamilien gehören. Schon seit ältesten Zeiten galten die Türken als Mittler zwischen Kulturen, zwischen Ost und West auf der berühmten Seidenstraße, wo nicht nur Güter und Waren hin- und hergingen, sondern auch Ideen und Religionen. Die Türken machten so Bekanntschaft mit mehreren Weltanschauungen und Religionen und wurden unter anderem bekannte Vertreter einiger dieser Glaubensrichtungen (z. B. Buddhismus, Manichäismus, Christentum). Mit der Ausbreitung des ursprünglich in Indien beheimateten Buddhismus Richtung Ostasien über Zentralasien konvertierten einige Türken zu dieser Religion. Sogar über einen berühmten alttürkischen König des 6. Jh. namens Taspar (auch die Schreibweise Tatpar ist bekannt) wird spekuliert, dass er selbst Buddhist gewesen sei und buddhistische Tempel in seinem Reich errichten ließ. Sicher belegt ist dies nicht, aber dass es Buddhisten im Reich der Türk (552-766) gab, wird nicht angezweifelt. Ein paar Jahrhunderte später wurde der Buddhismus in den Königreichen der ebenfalls türksprachigen Uiguren (ab dem 9. Jh.) schließlich Staatsreligion und läutete die Blütephase des uigurischen Buddhismus ein, der zahlreiche Schriftdenkmäler und andere kulturelle Erzeugnisse hinterließ.

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Das Reich der Türk. Aus: Golden, Peter: Central Asia in World History. Oxford 2011

Das soziolinguistische Phänomen Entlehnung wurde eingangs schon genannt. Den Begriff Lehnwort kennen wir nun auch. Hier muss noch etwas klargestellt werden, denn Entlehnung kann klassifiziert und weiter unterteilt werden. Ein Lehnwort, also die Übernahme eines Wortes aus einer anderen Sprache samt Form (Aussprache, ggf. Schreibung, sofern Schriftsprache) und Bedeutung, ist ein Beispiel für direkte (äußere) Entlehnung. Daneben gibt es aber auch die indirekte (innere) Entlehnung. Die indirekte Entlehnung können wir mit dem Oberbegriff Lehnprägung wiedergeben. Der grundlegende Unterschied dieser zum Lehnwort ist, dass nicht ein fremdes Wort aus einer anderen Sprache samt Form entlehnt wird, sondern nur seine Semantik (Bedeutung). Die indirekte Entlehnung ist also ein Wort aus der eigenen Sprache, das seine Bedeutung aus einer anderen Sprache (übernommen) hat. Klingt komisch? Unten zeige ich euch zwei Beispiele, worum es sich genau handelt. Die Linguistik unterscheidet weiterhin feinere Unterschiede innerhalb der Lehnprägungen, aber damit wollen wir uns hier nicht aufhalten. Zwei bekannte Beispiele für Lehnprägungen sind die deutschen Wörter Großmutter und herunterladen. Während Großmutter eine eins-zu-eins-Übersetzung von Französisch grand-mère ist (wörtl. groß-Mutter), ist das neuere Wort herunterladen eine Übersetzung des englischen Wortes download. Solche Wörter, die es in sämtlichen Sprachen gibt, nennt man Lehnübersetzungen. Eine ähnliche, aber nicht exakte Imitation eines fremden Wortes ist die Lehnübertragung. Das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist das deutsche Wort Wolkenkratzer, das eine Übertragung von Englisch skyscraper ist.

Die ersten Schriftdokumente der Türksprachen, die sogenannten Orchon- und Jenissej-Inschriften in der Mongolei und in Südsibirien, geschrieben in einer Art ‚Runen-Schrift‘, weisen abgesehen von einigen iranischen und chinesischen Titeln sehr wenige Lehnwörter auf. Die Schriftsprache der Uiguren, die ebenfalls zur alttürkischen Sprachstufe gezählt wird wie das oben genannte Orchon-Türkische der Inschriften, weist im Vergleich zu diesem eine weitaus größere Anzahl von Lehnwörtern auf, die hauptsächlich der Übernahme von großen Religionen aus benachbarten Kulturen geschuldet ist.

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Darstellung einer uigurischen Frau. Beispiel für die uigurisch-buddhistische Kunst, entdeckt in den berühmten Tausend-Buddha-Höhlen von Bäzäklik, China. Quelle: Ethnologisches Museum Berlin.

Nach der Konversion zum Buddhismus standen die Uiguren vor der Notwendigkeit, sämtliche buddhistische Begriffe aus dem Indischen (den Schriftsprachen Sanskrit und der buddhistischen lingua sacra Pāli) in ihrer eigenen Sprache wiederzugeben. Obwohl Namen von bekannten buddhistischen Heiligen zumeist direkt aus dem Sanskrit entlehnt sind, werden unbekanntere Begriffe generell, jedoch nicht immer durchgängig, in Form von Lehnprägungen wiedergegeben. Die alttürkischen Lehnprägungen sind scheinbar bei der Übersetzung buddhistischer Texte ein wichtiges Werkzeug gewesen, um die Schriften adäquat ins Türkische zu übersetzen und dabei wichtige buddhistische Termini in der Sprache der Uiguren auszudrücken, damit sie für das Volk verständlicher sind.

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Fragment eines uigurischen Textes in der vertikalen uigurischen Schrift. Quelle: Digitales Turfan-Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Bevor wir zu den Lehnprägungen im Alttürkischen genauer zu sprechen kommen, wäre es sinnvoll, ein paar Worte über das Indische zu sagen. Mit Indisch ist hier keineswegs das moderne Hindi, eine der Amtssprachen Indiens, gemeint, sondern hauptsächlich das Sanskrit, eine wichtige uralte Sprache des indischen Kulturraums. Sanskrit spielt für den Hinduismus eine ähnlich große Rolle wie das Arabische für den Islam und Latein für das Christentum. Auch für bestimmte Strömungen innerhalb des Buddhismus ist Sanskrit eine sehr wichtige Sprache gewesen. Der Einfluss der indischen Liturgiesprachen Sanskrit (Altindisch) und Pāli (Mittelindisch, ursprüngliche Sprache des buddhistischen Kanons), der durch die Expansion des Buddhismus von Indien aus nach Südostasien und über Zentralasien nach Ostasien gelangte, war in den besagten Regionen gewaltig. So hat z. B. das Thai neben indischen buddhistischen Termini auch viele Alltagswörter aus diesen indischen Sprachen entlehnt. Die eben erwähnten Beispiele für das hohe Prestige von Sakralsprachen und ihren damit einhergehenden starken Einfluss sind nicht überraschend und gehen mit dem Ergebnis einer neueren Studie zu Lehnwörtern in den Sprachen der Welt einher, dass sprachübergreifend das semantische Feld, das am stärksten von Entlehnungen betroffen ist, Religion und Glaube ist.

Nun zur eigentlichen Frage des Beitrags: inwiefern hat der Buddhismus das Vokabular des Alttürkischen beeinflusst und welche Spuren sind heute im modernen Türkeitürkischen zu finden?

Die Literatur, die das Alttürkische hervorbrachte, besteht hauptsächlich aus religiöser Literatur, insbesondere handelt es sich bei vielen Texten um Übersetzungen von buddhistischen Texten aus anderen Sprachen. Zur religiösen Literatur gehören zudem manichäische und in kleinem Umfang christliche Texte. Auch säkulare Literatur, Inschriften, Dichtungen, Rätsel, Dokumente und Briefe sowie viele andere Schriftzeugnisse im Alttürkischen wurden bisher gefunden. Das Alttürkische musste also eine ausdrucksstarke Schriftsprache mit einer reichen Literatur sein. Wie vorhin schon erwähnt, mussten die ersten türkischen Buddhisten wichtige Begriffe ihrer neuen Religion in ihre eigene Sprache übertragen und schufen dabei ein reiches Vokabular. Spätestens hier beginnt der Einfluss der indischen Sprachen, primär des Sanskrit. Das Sanskrit selbst ist eine sehr eloquente Sprache mit einem extrem umfangreichen Wortschatz und unheimlich reichen Ausdrucksmöglichkeiten. Das Besondere dieser Sprache ist zudem, dass sie unzählig viele Wortzusammensetzungen (Komposita) enthält, ähnlich wie das Deutsche.

Wörter können manchmal unter Einfluss einer anderen Sprache andere und/oder zusätzliche Bedeutungen gewinnen. Man denke dabei nur an das Beispiel realisieren aus dem Deutschen, welches ursprünglich nur ‚etwas in die Tat umsetzen‘ bedeutete und heute neben dieser noch die Bedeutung ‚etwas begreifen, einsehen‘ unter Einfluss des Verbs im Englischen (to realize) aufweist. Etwas ähnliches passierte mit dem alttürkischen Wort agu ‚Gift‘ (im heutigen Türkeitürkischen ağı), das zusätzlich zu seiner eigentlichen Bedeutung eine der Wurzelkleshas im Buddhismus wiedergibt. Der Auslöser für diese Entwicklung ist das Wort viṣa im Sanskrit, das ‚Gift‘ bedeutet, im Kompositum triviṣa ‚drei Gifte‘ steckt und die drei Geistesgifte (Ignoranz, Gier und Hass) im Buddhismus wiedergibt.

Habt ihr schon einmal das türkische Gericht güveç probiert oder eine buddhistische Bettelschale aus der Nähe gesehen? Ihr fragt euch, was für einen Zusammenhang es zwischen diesen gibt? Das Wort güveç selbst ist nicht indischer Herkunft, aber das Gericht, ein aus Ton gefertigter Topf mit Allerlei aus Fleisch und Gemüse, lässt die Tradition der frühen buddhistischen Türken heute in der Türkei weiterleben. Denn die alttürkische Form davon, küveç, bezeichnete die Almosenschale (Sanskrit pātra) der buddhistischen Mönche.

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Buddhistischer Mönch mit Bettelschale. Copyright: Carl Mani

Noch interessanter und erstaunlicher wird es, wenn wir uns die sprachliche Wiedergabe der Sonnen- bzw. Mondfinsternis im Türkischen anschauen. Diese heißen im Türkischen gün/ay tutulması und wortwörtlich können sie als „Das Ergriffenwerden der Sonne bzw. des Mondes“ übersetzt werden. Dass das Türkische eine recht bildliche Sprache ist, sollte vielleicht einigen bekannt sein. Warum aber werden diese Himmelskörper ergriffen und von wem? Selbst die meisten türkischen Muttersprachler werden die Antwort nicht kennen. Wieder einmal liegt die Antwort im Buddhismus bzw. in der buddhistischen Vergangenheit der Türken, wie Prof. Laut aus Göttingen feststellte. Die türkeitürkischen Komposita für die besagten astronomischen Ereignisse gehen auf alttürkische Konstruktionen (kün/ay tutun-) mit altindischem Hintergrund zurück. Im altindischen Mythos, der Parallelen in verwandten indoeuropäischen Mythologien wie z. B. in der nordischen Mythenwelt findet, jagt der Himmelsdämon Rāhu der Sonne und dem Mond hinterher, um diese zu ergreifen und schließlich zu verschlingen. Damit erklärten sich die Alten Inder die Sonnen- bzw. Mondfinsternis. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass z. B. Sanskrit sūrya-grahana ‚Sonnenfinsternis‘ wörtlich ‚das Ergreifen der Sonne‘ bedeutet. Faszinierend, dass die Türken auf ihrem Wanderweg von Zentralasien nach Anatolien auch diesen altindischen Mythos, in ihrer eigenen Sprache ausgedrückt, mit sich gebracht haben, und heute nach wie vor in ihrem Sprachgebrauch verwenden.

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Der indische Himmelsdämon Rāhu

Es gibt noch weitere türkische Wörter und Redewendungen, die ihren Ursprung im uigurisch-buddhistischen Milieu des Mittelalters haben, aber genug fürs Erste. In folgenden Beiträgen werde ich vielleicht auf weitere ähnliche Phänomene zu sprechen kommen. Ich hoffe, dass euch das Lesen Spaß gemacht hat, und würde mich über Feedback, positiv wie negativ, sehr freuen. Abschließend findet ihr eine kurze Bibliographie, falls ihr auf den Geschmack gekommen seid und euch über diese Themen weiterführend informieren wollt.

Weiterführende Literatur:

Golden, Peter: Central Asia in World History. Oxford 2011.

Haspelmath, Martin & Tadmor, Uri: Loanwords in the World’s Languages. A Comparative Handbook. Berlin 2009.

Keown, Damien: Buddhism. A Very Short Introduction. Oxford 2009.

Laut, Jens Peter: Methoden und Möglichkeiten der Wiedergabe von indisch-buddhistischen Termini im Alttürkischen. In: Bretfeld, Sven & Wilkens, Jens (edd.): Indien und Zentralasien. Sprach- und Kulturkontakt. Vorträge des Göttinger Symposions vom 7. bis 10. Mai 2001. Wiesbaden 2003, S. 13-24.

Röhrborn, Klaus: Kulturelle Verwandtschaft der indischen und zentralasiatischen Sprachen. In: Bretfeld, Sven & Wilkens, Jens (edd.): Indien und Zentralasien. Sprach- und Kulturkontakt. Vorträge des Göttinger Symposions vom 7. bis 10. Mai 2001. Wiesbaden 2003, S. 1-10.

Wilkens, Jens:  Buddhism in the West Uyghur Kingdom and Beyond. In: Meinert, Carmen (ed.): Transfer of Buddhism Across Central Asian Networks (7th to 13th Centuries). Leiden 2015, S. 191-249.

Wilkens, Jens: Buddhismus bei den türkischen Völkern in Zentralasien. In: Hutter, Manfred (ed.): Der Buddhismus II. Theravada-Buddhismus und Tibetischer Buddhismus. Stuttgart 2016.

Winford, Donald: An Introduction to Contact Linguistics. Malden, MA, 2003.

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